fotolia 112143269 aktuelles

Aktuelle Meldungen

HARTZ IV

Frau S. gegen Deutschland

29.07.2010 - VON ANTJE HILDEBRANDT - Rheinischer Merkur

Wollte das Sozialgericht Berlin alle offenen Verfahren erst einmal abarbeiten, müsste es für ein Jahr schließen. Die Richter kommen kaum hinterher – und müssen ausbaden, was der Gesetzgeber offenließ. Eindrücke vom kafkaesken Kampf um Recht und Gerechtigkeit.

Es geht um Heizkosten in Höhe von 978,18 Euro. Vielleicht aber auch um mehr. Frau S. bricht plötzlich in Tränen aus, als sie der Richter persönlich anspricht. Es ist ein warmer Tag im Juni, die Sonne scheint schräg von oben durch die hohen, geschwungenen Fenster, die diesem spätklassizistischen Prachtbau vis-à-vis des Hauptbahnhofes etwas von seiner Wucht rauben. Doch sie bringt kein Licht in die Kolonnen von Fakten und Zahlen, die der Richter herunterrattert. Es ist seine fünfte Verhandlung an diesem Tag. Alles eine Frage der Routine.

Diesmal hat Herr S. aus Berlin-Lichtenrade geklagt. 2008 musste er mehr Heizkosten als sonst für seine 80 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung nachzahlen, weil die studierende Tochter vorübergehend wieder zu Hause eingezogen war. Das Jobcenter weigerte sich. Frau S., eine dralle Mittfünfzigerin mit schweren Goldohrringen über einem marinefarbenen Blazer, schnäuzt sich umständlich in ein Taschentuch.

Dabei hat sie der Richter nur gefragt, ob ihr Mann das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg auch in ihrem Namen auf die Nachzahlung von Heizkosten verklagt hat. Und wenn ja, warum sie dann als Zeugin und nicht als Klägerin auftrete. Es ist der Moment, in dem sich Frau S. nicht länger verstecken kann. Nicht hinter ihrem eloquenten Mann, dem die Zornesröte ins Gesicht steigt; schon gar nicht hinter einem Rechtsanwalt. Den kann sich das Ehepaar nicht mehr leisten.

Das hier ist auch ihr Verfahren, ob sie will oder nicht. Frau S. steht vor dem Berliner Sozialgericht für 978,18 Euro gerade – und ein bisschen auch für den Knick in ihrer Biografie. Unter Tränen stammelt sie, es sei ihr Mann, Jahrgang 1944, Diplom-Kaufmann, Hartz-IV-Empfänger und jetzt Rentner, der sich praktisch um alles Finanzielle kümmere. Eine Bedarfsgemeinschaft, so nennt der Gesetzgeber das.

Es ist ein Fall, wie er am Sozialgericht Berlin beinahe täglich verhandelt wird. Die Behörde ächzt unter einer Flut von Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide. Die Proteste gegen das Herzstück der rot-grünen Arbeitsmarktreformen haben ein Ausmaß angenommen, das man dramatisch nennen muss. Am 18. Juni vermeldete Pressesprecher Marcus Howe den „100 000. Hartz-IV-Fall!“ Die Meldung wäre auch ohne Ausrufezeichen ausgekommen. Sie klang ein bisschen nach einem Hilferuf.

Howe, 41 Jahre alt, vier Kinder, ist selber Richter an Deutschlands größtem Sozialgericht. Ein ruhiger Mann, der glaubt, sich ein Gespür für die Befindlichkeiten der Menschen in der Stadt bewahrt zu haben. Sein Job öffnet ihm eine Tür zu ihren Wohnzimmern. Als er im Jahr 2000 seine Stelle antrat, bearbeitete er in erster Linie Fälle der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Inzwischen bestimmt Hartz IV seinen Berufsalltag. Seine Krawatte leuchtet in demselben blassen Grün wie die Hartz-IV-Akten, die die Regale in der Geschäftsstelle seiner 103. Kammer bis zur Decke füllen. Nein, versichert er lächelnd, das System habe ihn noch nicht absorbiert. „Grün ist die Farbe der Hoffnung.“

Fünf Jahre ist es jetzt her, dass die Bundesregierung Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt hat. Statt mühselig den Bedarf im Einzelfall auszurechnen, sollte eine Pauschale für alles her, Regelleistung plus Miete und Heizkosten. Alles aus einer Hand. Einfacher, effizienter und vor allem günstiger sollte das für Bund und Kommunen werden, so hatte es sich der Vater dieser Reform ausgemalt: Peter Hartz, damals Personalvorstand bei der Volkswagen AG. Er konnte nicht ahnen, dass sein Name einmal zum Synonym für den größten Irrtum der Sozialgesetzgebung werden würde.

Alle 16 Minuten geht im Berliner Sozialgericht ein neuer Hartz-IV-Fall ein. Allein von Januar bis Ende Mai dieses Jahres stieg die Zahl der Klagen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 35 Prozent. Die Richter kommen kaum hinterher. Weil das Gesetz viele Fragen offenlässt, zum Beispiel, was der Gesetzgeber unter „angemessenen Unterkunftskosten“ versteht, werden strittige Fragen immer häufiger juristisch geklärt. Am häufigsten geht es um die Rückzahlung von Arbeitslosengeld II oder um Einkommen, die die Behörde mit der staatlichen Regelleistung verrechnet. Wie, bleibt dem Bürger ein Rätsel. Er erfährt nur das Ergebnis.

Der 53-jährige Frank Steger, Geschäftsführer des Berliner Arbeitslosenzentrums (Balz) evangelischer Kirchenkreise, sagt, seine Klienten bekämen mitunter „telefonbuchdicke Bescheide“, die sie nicht verstünden. Weshalb einige Jobcenter neuerdings „Bescheiderklärer“ einsetzten. Nachfragen gestalteten sich schwierig, auch für die Mitarbeiter des Balz. Die Leistungsabteilung rücke keine Telefonnummer heraus. Steger redet von unübersichtlichen Strukturen, von wechselnden Zuständigkeiten und überlasteten Mitarbeitern. Er sagt: „Es ist ein Gefühl, als betrete man ein kafkaeskes Schloss.“

Das Balz berät jedes Jahr 3000 Hartz-IV-Empfänger. Mit seinem weißen Bus klappert es die Jobcenter in der Stadt ab. Frank Steger hilft den Betroffenen, Widersprüche zu formulieren und wenn es sein muss, auch zu klagen. In vielen Fällen hätten sich beide Parteien den Gang zum Gericht sparen können, wenn sie vorher auf Augenhöhe miteinander geredet hätten. Vier von fünf Fällen vor dem Sozialgericht enden ohne Urteil. „Der Richter wird zum Schlichter“, sagt Marcus Howe. Man kann auch sagen: Er muss es ausbaden, wenn Hartz-IV-Empfänger und Sachbearbeiter in den Jobcentern aneinander vorbeireden.

Akten, überall Akten. In der Posteingangsstelle stapeln sich die eingegangenen Sendungen jeden Morgen so hoch, dass sie René Hildebrandt, 42, und Marco Pech bei der Arbeit die Sicht auf ihr Gegenüber versperren. Um 8.30 Uhr kommt ein Kleinlaster der Post und bringt Nachschub. Die beiden Kollegen müssen die Sendungen sortieren. Der 31-jährige Marco Pech, schulterlange Haare, silberner Ring im Ohr, will sich nicht beklagen. Hartz IV hat ihm Glück gebracht. Vor sechs Monaten fing er als vierter Mann in der Poststelle an. „Ein krisensicherer Job“, sagt der gelernte Maler. Er lächelt verlegen. „Beinahe wäre ich selber in die Arbeitslosigkeit gerutscht.“

Die Behörde stößt an ihre Grenze. Um Platz zu schaffen, wurde ein Teil des Archivs nach Großbeeren verfrachtet. Die Gerichtskantine wich neuen Büros. Seit 2005 hat sich die Zahl der Richter nahezu verdoppelt, inzwischen sind es 115. Die Krise, sie entpuppte sich als Jobwunder für frischgebackene Juristen mit Prädikatsexamen. Inzwischen befassen sich 66 von ihnen ausschließlich mit Hartz IV. Berlin gilt als Hartz-IV-Metropole. Jeder Fünfte unter 65 Jahren bezieht Leistungen aus dem Hartz-IV-System. Zurzeit sind es rund 580 000 Kinder und Erwachsene. Jeder zwölfte der bundesweit rund 6,9 Millionen Hartz-IV-Bezieher lebt in der Hauptstadt.

Zehn Monate dauert ein Verfahren im Schnitt. Damit stehe das Sozialgericht bundesweit noch gut da, resümiert Howe. Fragt sich bloß, wie lange noch. Ein Ende der Klagewelle ist nicht in Sicht. Gerade hat die Bundesregierung ihr Sparpaket beschlossen. Auf der Streichliste stehen diesmal das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger und die Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose. Es gab einen kurzen Aufschrei der Empörung, nicht nur in der Bevölkerung, auch bei der Opposition und den Gewerkschaften. Doch bevor einer die grundsätzliche Frage aufwerfen konnte, wie der Sozialstaat wieder aus der Sackgasse herausfinden soll, in die ihn die Arbeitsmarktreform geführt hat, war er wieder verhallt.

Im Sozialgericht kann man sein Echo noch leise hören. „Neue Einschnitte bei Hartz IV werden weitere Verfahren nach sich ziehen“, prophezeit Howe. Dabei muss schon jetzt einiges liegenbleiben. Rund 38 000 Verfahren sind noch offen. „Um die alle abzuarbeiten, müssten wir das Haus für ein Jahr schließen“, sagt der Sprecher.

„Nummer vier, bitte“. Die resolute Stimme einer Frau dringt aus der Rechtsantragsstelle im Erdgeschoss. Dort, wo die Wartemarken noch nicht aus dem Automaten kommen. Man nimmt sie sich einfach von einem Stapel herunter. Es sind Billetts aus rotem Plastik, jedes so groß wie ein Zehneuroschein. „Das spart Kosten“, heißt es im Gericht. Mit der Nummer in der Hand landen Besucher vor dem Tresen von Renate Hawaz-Klein, 59, hellblonde Haare, mütterlich-strenger Blick hinter einer Brille, ein Bonbonglas für Kinder auf dem Schreibtisch, ein Alarmknopf für Notfälle darunter.

Sie sagt, 80 Prozent ihrer Klienten kommen wegen Stress mit dem Jobcenter. Die einen sind den Tränen nahe, andere auf Krawall gebürstet. Mal geht es um 200 Euro für eine Klassenfahrt, die ein Jobcenter nicht bewilligt. Mal um den Zusatzbeitrag von acht Euro für die gesetzlichen Krankenkassen, den die Jobcenter nicht übernehmen. Auf dem Schreibtisch der Justizangestellten liegt ein Prospekt mit Gartenmöbeln. Sie sagt, sie könne sich nicht vorstellen, wie sie von 359 Euro im Monat leben sollte. Sie könne aber verstehen, dass wegen acht Euro Tränen fließen. „Für jemanden, der von Hartz IV lebt, ist das viel Geld.“

Ihre Klienten können sich keinen Anwalt leisten. Es ist ihre Aufgabe, ihnen dabei zu helfen, ihre Klage zu formulieren. Sie sagt: „Ein bisschen bin ich auch Seelsorgerin.“ Für Notfälle hat sie sich Visitenkarten von Notunterkünften oder Suppenküchen kopiert. Einen Mittzwanziger in zerrissenen Jeans, dem das Jobcenter die Arbeitslosenhilfe II gekürzt hat, weil er keine Anstalten gemacht hat, sich um einen Job zu bewerben, hat sie gerade zu den Franziskanern gelotst. „Da bekommen Sie eine warme Mahlzeit und auch was Ordentliches anzuziehen.“

Hawaz-Klein ist nicht die Einzige, die versucht, schnell und unbürokratisch zu helfen. Sie kennt viele Geschichten von der Solidarität. Der Mutter etwa, der das Jobcenter nicht das Geld für die Klassenfahrt ihres 13-jährigen Sohnes bewilligt hat, hat die Klassenlehrerin das Geld vorgeschossen. Das ist die eine Seite von Hartz IV.

Die andere Seite kennt kaum jemand so gut wie Lutz Ottenberg. Der Justizhauptwachmeister hat sich vor dem Metalldetektor hinterm Eingang aufgebaut. Ein vierschrötiger Typ mit Bürstenhaarschnitt. „J-U-S-T-I-Z“ steht in großen Buchstaben auf seinem Hemdkragen. „Früher war dieses Haus ein offenes Haus. Jetzt müssen die Leute durch eine Sicherheitsschleuse wie im Flughafen“, sagt Ottenberg. Schuld daran sind nicht nur die Arbeitsmarktreformen.

Im September 2004 stürmte ein Rentner die Behörde mit einer Panzermine. Das Sozialgericht hatte entschieden, dass seine Krankenkasse nicht die Kosten für eine Operation übernehmen musste. Dagegen rannte der Mann an. Er drohte, die Behörde in die Luft zu sprengen – mit 7,7 Kilogramm TNT. Seither hat Ottenberg Besuchern des Sozialgerichtes ein ganzes Arsenal an Totschlägern, Schlagringen und Schreckschusspistolen abgeknöpft. Er sagt, er frage sie nicht mehr, wozu sie vor Gericht ein Springmesser benötigten. „Die erzählen mir dann: Ich muss später noch in die Pilze.“

Lutz Ottenberg sagt, die Klientel sei spürbar aggressiver geworden. Als „Nazischwein“ sei er schon beschimpft worden, Dienstaufsichtsbeschwerden habe er sich auch schon eingehandelt. Man kann sagen, Ottenberg muss als Prellbock für ein Gesetz herhalten, dessen Anwendung in diesem Gebäude täglich neu überprüft wird – mit Ergebnissen, die den verantwortlichen Urhebern in der Politik ein Armutszeugnis ausstellen: „Jedes zweite Verfahren endet mit einem Teilerfolg für den Kläger“, bilanziert Marcus Howe.

Es ist eine verheerende Bilanz, auch für die Bundesagentur für Arbeit (BA). In der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg heißt es in dürren Worten, die hohe Erfolgsquote der Kläger gehe auf das Gesetz zurück. Das sei eben komplex und dynamisch. Eigene Fehler der Behörde? Fehlanzeige. „In einer Vielzahl von Klageverfahren werden vom Kläger Unterlagen nachgereicht, durch die sich die ursprünglich fehlerfreie Entscheidung später als falsch erweisen kann“, heißt es in einer schriftlichen Antwort auf eine Presseanfrage.

Der Leistungsempfänger als Kläger, er hat sich emanzipiert. Frank Steger vom Berliner Arbeitslosenzentrum sagt, viele fühlten sich der Behörde ausgeliefert.

„Ein Sieg vor Gericht gibt ihnen das Gefühl zurück, etwas bewirken zu können.“ Im Fall der Eheleute S. stimmt das Jobcenter nach einer halben Stunde einem Vergleich zu: Es übernimmt elf Zwölftel der Heizkosten. Frau S. fährt sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Augen. Ihr Mann verlässt den Gerichtssaal hocherhobenen Hauptes. Er brummt: „Na bitte, geht doch.“

© Rheinischer Merkur Nr. 30, 29.07.2010