19.08.2008 - Markus Drescher - Neues Deutschland
Irren ist menschlich. Sachbearbeiter in Jobcentern sind Menschen. Doch aus ihrem menschlichen Irren wird amtliches: fehlerhafte und unverständliche Bescheide oder zu lange Bearbeitungszeiten von Anträgen und Widersprüchen. Damit Jobcenter-»Kunden« nicht mit den amtlichen Irrtümern allein gelassen werden, gibt es Beratungsstellen für ALG-II-Betroffene. »Die Erfahrungen vor Ort zeigen, dass die wenigsten wissen, dass es eine Beratung gibt«, erzählt Frank Steger, Vorstand des Berliner Arbeitslosenzentrums (BALZ).
Unter dem Motto »Irren ist amtlich – Beratung hilft« bringt deshalb das BALZ in Kooperation mit der Liga der Wohlfahrtsverbände die Hilfe mit einer mobilen Beratung zu den Betroffenen – direkt zum Ausgangspunkt der Irrtümer: dem Jobcenter. Die, so Steger, hätten aber größtenteils keine Probleme mit der Präsenz des Beratungsbusses. Im letzten Jahr sei er selbst von zwei Amtsleitern sogar zu einem Gespräch eingeladen worden. Bis zum 26. September macht der Beratungsbus der Reihe nach jeweils für zwei Tage Halt vor den zwölf Berliner Jobcentern. Am Montag hieß die erste Station Jobcenter Mitte.
Die drei Berater vor dem Bus sind gefragt an diesem Morgen. Sie werden vieles gefragt. Ratsuchende zeigen ihre Bescheide und deuten mit hilfesuchenden Blicken auf die Blätter. Weniger komplizierte Anfragen werden vor dem Bus beantwortet, ausführliche Gespräche können drinnen geführt werden. Hier gibt es Laptop, Internetanschluss und auch einen Drucker.
Zumeist geht es um die Verständlichkeit von Anträgen und Bescheiden. »Vor allem die Einkommensanrechnung ist ein Problem«, erklärt Steger. Auch Zwangs- und vom Jobcenter nicht genehmigte Umzüge gehörten zu den Hauptschwierigkeiten, genau wie Rückforderungen oder die Warmwasserpauschalen. Die Berater klären die Betroffenen über ihre Rechte wie Widerspruch oder Klage auf, geben Tipps für notwendige Schritte oder die Kontaktdaten von ständigen Beratungsstellen mit auf den Weg.
Bereits im vergangenen Jahr war das BALZ mit dem Beratungsbus drei Wochen auf Jobcenter-Tour. Wegen des großen Erfolges wird die Aktion nun wiederholt und zeitlich auf sechs Wochen verdoppelt. »Die Probleme sind im Vergleich zum letzten Jahr nicht weniger geworden«, erklärt Steger. »Die Menschen berichten nicht von Verbesserungen.«
Um die subjektiven Eindrücke der Beratungen auch mit Daten untermauern zu können, führt das BALZ derzeit eine Umfrage unter Betroffenen zu deren Erfahrungen mit dem Jobcenter im Internet und während des mobilen Beratungseinsatzes durch. Elf Fragen umfasst der Bogen, von »Haben Sie Ihren letzten ALG-II-Bescheid verstanden« über die Bewertung der telefonischen Erreichbarkeit der Sachbearbeiter bis hin zur Frage, ob bei der Eingliederungsvereinbarung die Wünsche des Betroffenen berücksichtigt wurden.
Außer Zweifel steht für Steger, dass unabhängige Beratung in Verwaltungsfragen notwendig ist, auch wenn dies oft mit dem Hinweis, dass doch die Jobcenter schon beraten würden, bezweifelt werde: »Die Stiftung Warentest oder die Verbraucherzentrale wird ja auch nicht in Frage gestellt.«
Beratung jeweils von 8 bis 13 Uhr. Heute: Jobcenter Mitte. Weitere Termine und die Umfrage unter: www.beratung-kann-helfen.de
Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/134039.hilfe-gegen-amtliche-irrtuemer.html
19.08.2008 - Gerhard Lehrke – Berliner Kurier
Sabine J. (42) schwankt zwischen Verzweiflung und Wut: Seit vier Monaten zahlt das Jobcenter ihre Miete nicht mehr, der Vermieter droht der Hartz-IV-Empfängerin mit Rausschmiss.
Die wegen eines Tumors arbeitslose OP-Schwester, die gerade eine Chemotherapie absolviert: "Ich habe die Wohnung meines Ex als seine Untermieterin übernommen. Dann wollte das Jobcenter erst eine Bestätigung von ihm, dass ich seine Untermieterin bin, und als ich sie endlich hatte, noch der Hausverwaltung."
Als sie die jetzt vorlegen wollte, hatte man im Jobcenter an der Berlichingenstraße keine Zeit. Hilfesuchend wandte sie sich an den Beratungsbus für Hartz-IV-Empfänger, der jetzt wieder mit der Kampagne "Irren ist amtlich" vor die Berliner Jobcenter fährt.
Berater Markus Wahle: "Das Jobcenter muss für die Erhaltung der Wohnung sorgen." Sollte der angekündigte Termin bzw. Anruf zur Klärung der Angelegenheit ausbleiben, soll Sabine J. eine einstweilige Verfügung beim Sozialgericht beantragen und sich bei der Geschäftsführung des Jobcenters beschweren.
Zu geringe Mietzahlungen, Unerreichbarkeit des Jobcenters per Telefon, ungerechtfertigte Drohungen mit Leistungskürzungen – an die 50 Hartz-IV-Empfänger wandten sich an die Berater.
19.08.2008 - Antje Lang-Lendorff - taz
So etwas haben die Arbeitslosen-Berater noch nicht gehört. "Mein Ansprechpartner im Jobcenter wollte mich zu einem Rotwein einladen, im privaten Rahmen", erzählt die junge Frau, die auf dem Bürgersteig vor dem Jobcenter in Mitte steht. Sie ist freischaffende Künstlerin und bezieht schon länger Arbeitslosengeld II. Vor einem Jahr sei das unmoralische Angebot per Mail bei ihr eingegangen. "Es hat mich tierisch belastet. Schließlich hängt von dem Mann einiges ab. Zum Beispiel, ob ich eine Weiterbildung machen kann." Sie wollte ihn nicht verärgern - und sagte mit freundlichen Worten ab.
Frank Steger vom Berliner Arbeitslosenzentrum (BALZ) schüttelt den Kopf. Dieser Fall sei sicherlich eine Ausnahme, sagt er. "Aber er zeigt, dass die Leute in einer Struktur sind, die sie erpressbar macht." Um die Arbeitlosen über ihre Rechte aufzuklären und ihnen das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Amt zu nehmen, touren Steger und seine Kollegen seit Montagmorgen mit einem kleinen Bus durch Berlin. Drei Wochen lang parken sie vor den Jobcentern und geben Tipps im Umgang mit der Behörde. Die Wohlfahrtsverbände unterstützen die Aktion.
Einer der Berater wendet sich an die junge Künstlerin. "Sie können den Ansprechpartner wechseln oder eine Person ihres Vertrauens zu den Terminen mitbringen", sagt er. Die Frau nickt. Das wisse sie inzwischen. Trotzdem bleibe ein mulmiges Gefühl, wenn sie ins Jobcenter müsse. Wie heute.
Dutzende Betroffene haben sich an diesem Vormittag bereits am Bus beraten lassen. Viele haben Probleme mit der Einkommensanrechnung, wenn sie sich zum Arbeitslosengeld etwas dazuverdienten, berichtet Steger. "In den Bescheiden wird der Rechenweg nicht offengelegt." Auch Umzüge, bei denen sich die Miete verteuere, seien Thema.
Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage der Bundesagentur für Arbeit kommt zu dem Schluss, dass viele Langzeitarbeitslose ihre Betreuung in den Jobcentern als befriedigend beurteilen. Die 35.000 Befragten gaben demnach im Schnitt die Schulnote 3. Viele vermerkten den Angaben zufolge als positiv, dass sie einen festen Ansprechpartner hätten. Steger überrascht das. Seiner Erfahrung nach wechselten häufig die Berater. "Sie müssen sich zudem um so viele Fälle kümmern, dass sie kaum Zeit haben." Er selbst würde die Arbeit der Jobcenter höchstens mit "ausreichend" bewerten.
Ein Betroffener, der das bestätigt, lässt nicht lange auf sich warten. "Jedes Mal habe ich einen anderen Berater, der wieder nicht weiß, worum es geht", sagt Manfred Meydorn, ein blonder Mann in kurzer Hose. Er ist Elektroingenieur, 58 Jahre alt, arbeitslos seit 2005. Er schimpft. "Ich bin es leid, wie ein Vieh an der Melkanlage anzustehen. Das ist menschenunwürdig."
Eine schmale Frau kommt zum Bus gelaufen. Sie zieht hektisch an ihrer Zigarette. Drei Monate habe sie das Geld für die Miete nicht erhalten, erzählt sie. "Das Jobcenter wollte immer weitere Papiere sehen." Nicht nur ihren Mietvertrag, auch die Einwilligung der Hausverwaltung zu diesem Vertrag. Jetzt drohe ihr die Kündigung.
Die junge Künstlerin kehrt am Mittag zufrieden von ihrem Termin mit dem Jobcenter-Mitarbeiter zurück. Heute habe er sich sehr korrekt verhalten, sagt sie. "Aber wenn es wieder ein Problem geben sollte, wechsele ich sofort den Berater."
Quelle: http://www.taz.de
19.08.2008 - Marlies Emmerich – Berliner Zeitung
Kunden des Jobcenters Mitte sind gestern wie gewohnt in die neue Woche gestartet: Jeden Montag bildet sich dort eine Schlange von Hartz-IV-Empfängern, die vom Eingang in der Berlichingenstraße bis weit zur Sickingenstraße reicht. Wer gleich früh kommt, braucht in der Regel bis zu zwei Stunden, um sein Anliegen vorzutragen. "Wenn dann alles wirklich in Ordnung wäre, wäre ich zufrieden", sagt ein Arbeitsloser vor der Tür. Denn die Kritik der meisten Betroffenen geht weit über lange Wartezeiten hinaus: Die Bearbeitung von Anträgen dauert meist noch immer zu lange, Bescheide sind häufig fehlerhaft oder überhaupt nicht lesbar und nicht selten wird zu wenig Geld ausgezahlt. Das sind die Hauptvorwürfe, die Arbeitslosengeld-II-Empfänger gegenüber den Jobcentern erheben.
Das Berliner Arbeitslosenzentrum fährt deshalb seit gestern mit einem Beratungs-Bus vor die Behörden, um dort die Betroffenen direkt zu unterstützen. Die Aktion läuft bis 26. September.
Markus Wahle vom Arbeitslosenzentrum zählt eine ganze Reihe von Fällen auf, bei denen es aus seiner Sicht nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Als "typisch" bezeichnet der junge Mann das fehlerhafte Anrechnen des Einkommens. So würde von den Sachbearbeitern "gerne" das Pflegegeld als Einkommen verrechnet, was allerdings schlicht falsch sei. Und als "ganz problematisch" nennt Wahle alle Bescheide, die das Einkommen von Selbstständigen bei der Berechnung beinhalten sollen. "Da ist fast jeder Bescheid falsch", sagt Wahle. Doch selbst wer nur eine einfache Umzugsmeldung korrigieren möchte, scheitert. "Schnell einmal anrufen geht nicht, dann landet man im Callcenter", weiß ein vorbeieilender Erwerbsloser. Die ursprünglich versprochene telefonische Erreichbarkeit und den Kontakt mit seinem direkten Betreuer gebe es so jedenfalls nicht, sagt er.
Es gibt noch andere Probleme, wie die Mitarbeiter des Arbeitslosenzentrums an diesem Morgen erfahren. Da will beispielsweise eine Frau, Italienerin und alleinerziehend, für sich und ihre kleine Tochter Hartz IV beantragen. "Äußerst ungern" wie die junge Mutter betont. Anders kann sie allerdings vorerst nicht über die Runden kommen. Doch schon am Eingangsschalter erfährt die Frau: "EU-Bürger haben zwar europaweit Freizügigkeit bei der Arbeitssuche, nicht aber Anspruch auf Arbeitslosengeld II." In das Haus darf sie nicht hinein, um einen Sachbearbeiter zum Thema zu finden. Enttäuscht und resigniert wendet sich die Italienerin an die Berater im Bus.
Die sagen, dass EU-Bürger rein theoretisch tatsächlich kein Hartz IV erhalten, wiederum aber durch zahlreiche Gesetze zum Aufenthaltsrecht dennoch diese staatliche Leistung letztlich beanspruchen können. So gehe aus dem Aufenthaltsrecht hervor, sagen die Berater, dass jeder EU-Bürger nach einem halben Jahr Beschäftigung im Sinne des Gesetzes Arbeitnehmer ist und berechtigt sei, Hartz IV zu beziehen. Und wer, wie mancher Grieche oder manche Griechin, manche Italienerin oder mancher Italiener mit einem deutschen Partner verheiratet ist, braucht sich auch keine Sorgen zu machen: In solchen Fällen sorgt der deutsche Staat dafür, dass keiner verhungert. Bei der gebürtigen Italienerin reicht es aus, dass ihr kleines Kind den deutschen Pass mit der Geburt erhalten hat. Die Frau will ihr Glück in den nächsten Tagen noch einmal versuchen.
Quelle: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/
dump.fcgi/2008/0819/berlin/0033/index.html
23.08.2008 - Von Gianna Hermann – Berliner Morgenpost
Ein Besuch im Jobcenter verwirrt Berliner Arbeitslose oft mehr, als dass er Klarheit schafft. Vor allem Hartz-IV-Empfänger sind mit den Anträgen und Formalitäten überfordert. Ihnen stehen die Mitarbeiter des Berliner Arbeitslosenzentrums und anderer Beratungsstellen mit Rat und Tat zur Seite. Mit dem Beratungsbus sind sie von Jobcenter zu Jobcenter unterwegs. Mehr als 40 Ratsuchende steigen täglich ein.
"Ich habe das Gefühl, hier werden nicht Menschen betreut, sondern Akten verwaltet!“ Aufgelöst kommt die junge Frau aus der Arbeitsagentur. In ihren Augen stehen Tränen. Die alleinerziehende Mutter ist Studentin und hat einen Nebenjob, von dem sie jedoch nicht leben kann. Die Betreuerin der Arbeitsagentur hat ihr nun geraten, das Studium aufzugeben, um eine Vollzeitstelle anzutreten – ein Semester vor ihrem Abschluss.
Frank Steger reicht der verzweifelten Frau ein Taschentuch: „Jetzt beruhigen Sie sich erst mal! Und dann erzählen Sie der Reihe nach!“ Frank Steger, Vorstandsmitglied beim Berliner Arbeitslosenzentrum (eine Einrichtung der evangelischen Kirchenkreise), steht seit acht Uhr vor dem Jobcenter Lichtenberg. Seit dem 18. August ist Steger mit dem Beratungsbus unterwegs, um die Fragen der Arbeitssuchenden vor den Berliner Jobcentern zu beantworten.
Unterstützt wird er von zwei Sozialarbeitern der Diakonie und der Caritas, die mit anderen Wohlfahrtsvereinen zu den Förderern des Projekts gehören. An die 40 Beratungsgespräche führen die Betreuer pro Tag. Vor allem die Hartz-Reformen sind Thema. Denn der Besuch im Jobcenter schafft oftmals keine Klarheit, sondern stiftet eher noch größere Verwirrung. Viele Besucher treten deshalb mit fragendem Gesicht vor das Amt und sind froh über das Angebot des Beratungsbusses.
Frank Steger rief die Initiative 2007 ins Leben und reagierte damit auf die unzureichende Beratung durch die Arbeitsämter. „Das Problem ist, dass die Mitarbeiter der Jobcenter oftmals weder die richtige Ausbildung noch genügend Zeit haben, um die Leute angemessen zu betreuen“, sagt Steger. Die persönliche Lebenssituation des Einzelnen spiele bei der Beratung keine Rolle. Das sei im Berliner Arbeitslosenzentrum anders: „Bei uns steht der Mensch im Vordergrund, nicht die Akte.“
Immer wieder treten bei der Antragsbearbeitung der Arbeitsagenturen Fehler auf. Im vergangenen Jahr nahm das Berliner Sozialgericht 18336 Klagen von Arbeitssuchenden entgegen, die einen Fehler im Agenturbescheid betrafen. Knapp die Hälfte der Fälle wurde zugunsten der Kläger entschieden. Häufig hatten die Mitarbeiter der Jobcenter die Verfahrensvorschriften nicht eingehalten. Immer wieder gab die Frage des „angemessenen“ Wohnraums Grund zur Klage.
Die Geschäftsführerin vom Jobcenter Lichtenberg, Hannelore Mouton, räumt ein, dass die neue Gesetzeslage viele Mitarbeiter überfordert: „Wir brauchen in den Jobcentern mehr Personal aus dem gehobenen Dienst, das dauerhaft bei uns angestellt ist.“ Allerdings trage auch die unklare Rechtslage dazu bei, dass viele Hartz-IV-Empfänger ihre Prozesse gewinnen. Mouton relativiert die hohe Anzahl von Klagen vor dem Sozialgericht: „Man darf nicht vergessen, dass unsere Mitarbeiter im Monat mehrere Tausend Bescheide versenden. Von den Klagen sind nur etwa zehn Prozent betroffen.“
Das Berliner Arbeitslosenzentrum will zur Aufdeckung amtlicher Fehlentscheide beitragen und die Arbeitssuchenden über ihre Recht und Pflichten aufklären. Nicht selten schickt Frank Steger die Beratungssuchenden mit ihrem Anliegen direkt zum Sozialgericht. „Irren ist amtlich“ prangt in großen Buchstaben auf dem Infoblatt, das auf Tischen vor dem Beratungsbus ausliegt. Doch die Fehler müssen zunächst einmal gefunden werden. Vor allem die Bürokraten-Sprache der Antragsformulare stellt für viele eine Hürde dar. Ausländer verlieren im Paragrafen-Dschungel besonders leicht den Überblick.
Quelle: http://www.morgenpost.de/berlin/article859145/
Auswege_aus_dem_Berliner_Hartz_IV_Dschungel.html
29.07.2010 - VON ANTJE HILDEBRANDT - Rheinischer Merkur
Wollte das Sozialgericht Berlin alle offenen Verfahren erst einmal abarbeiten, müsste es für ein Jahr schließen. Die Richter kommen kaum hinterher – und müssen ausbaden, was der Gesetzgeber offenließ. Eindrücke vom kafkaesken Kampf um Recht und Gerechtigkeit.
Es geht um Heizkosten in Höhe von 978,18 Euro. Vielleicht aber auch um mehr. Frau S. bricht plötzlich in Tränen aus, als sie der Richter persönlich anspricht. Es ist ein warmer Tag im Juni, die Sonne scheint schräg von oben durch die hohen, geschwungenen Fenster, die diesem spätklassizistischen Prachtbau vis-à-vis des Hauptbahnhofes etwas von seiner Wucht rauben. Doch sie bringt kein Licht in die Kolonnen von Fakten und Zahlen, die der Richter herunterrattert. Es ist seine fünfte Verhandlung an diesem Tag. Alles eine Frage der Routine.
Diesmal hat Herr S. aus Berlin-Lichtenrade geklagt. 2008 musste er mehr Heizkosten als sonst für seine 80 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung nachzahlen, weil die studierende Tochter vorübergehend wieder zu Hause eingezogen war. Das Jobcenter weigerte sich. Frau S., eine dralle Mittfünfzigerin mit schweren Goldohrringen über einem marinefarbenen Blazer, schnäuzt sich umständlich in ein Taschentuch.
Dabei hat sie der Richter nur gefragt, ob ihr Mann das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg auch in ihrem Namen auf die Nachzahlung von Heizkosten verklagt hat. Und wenn ja, warum sie dann als Zeugin und nicht als Klägerin auftrete. Es ist der Moment, in dem sich Frau S. nicht länger verstecken kann. Nicht hinter ihrem eloquenten Mann, dem die Zornesröte ins Gesicht steigt; schon gar nicht hinter einem Rechtsanwalt. Den kann sich das Ehepaar nicht mehr leisten.
Das hier ist auch ihr Verfahren, ob sie will oder nicht. Frau S. steht vor dem Berliner Sozialgericht für 978,18 Euro gerade – und ein bisschen auch für den Knick in ihrer Biografie. Unter Tränen stammelt sie, es sei ihr Mann, Jahrgang 1944, Diplom-Kaufmann, Hartz-IV-Empfänger und jetzt Rentner, der sich praktisch um alles Finanzielle kümmere. Eine Bedarfsgemeinschaft, so nennt der Gesetzgeber das.
Es ist ein Fall, wie er am Sozialgericht Berlin beinahe täglich verhandelt wird. Die Behörde ächzt unter einer Flut von Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide. Die Proteste gegen das Herzstück der rot-grünen Arbeitsmarktreformen haben ein Ausmaß angenommen, das man dramatisch nennen muss. Am 18. Juni vermeldete Pressesprecher Marcus Howe den "100 000. Hartz-IV-Fall!" Die Meldung wäre auch ohne Ausrufezeichen ausgekommen. Sie klang ein bisschen nach einem Hilferuf.
Howe, 41 Jahre alt, vier Kinder, ist selber Richter an Deutschlands größtem Sozialgericht. Ein ruhiger Mann, der glaubt, sich ein Gespür für die Befindlichkeiten der Menschen in der Stadt bewahrt zu haben. Sein Job öffnet ihm eine Tür zu ihren Wohnzimmern. Als er im Jahr 2000 seine Stelle antrat, bearbeitete er in erster Linie Fälle der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Inzwischen bestimmt Hartz IV seinen Berufsalltag. Seine Krawatte leuchtet in demselben blassen Grün wie die Hartz-IV-Akten, die die Regale in der Geschäftsstelle seiner 103. Kammer bis zur Decke füllen. Nein, versichert er lächelnd, das System habe ihn noch nicht absorbiert. "Grün ist die Farbe der Hoffnung."
Fünf Jahre ist es jetzt her, dass die Bundesregierung Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt hat. Statt mühselig den Bedarf im Einzelfall auszurechnen, sollte eine Pauschale für alles her, Regelleistung plus Miete und Heizkosten. Alles aus einer Hand. Einfacher, effizienter und vor allem günstiger sollte das für Bund und Kommunen werden, so hatte es sich der Vater dieser Reform ausgemalt: Peter Hartz, damals Personalvorstand bei der Volkswagen AG. Er konnte nicht ahnen, dass sein Name einmal zum Synonym für den größten Irrtum der Sozialgesetzgebung werden würde.
Alle 16 Minuten geht im Berliner Sozialgericht ein neuer Hartz-IV-Fall ein. Allein von Januar bis Ende Mai dieses Jahres stieg die Zahl der Klagen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 35 Prozent. Die Richter kommen kaum hinterher. Weil das Gesetz viele Fragen offenlässt, zum Beispiel, was der Gesetzgeber unter "angemessenen Unterkunftskosten" versteht, werden strittige Fragen immer häufiger juristisch geklärt. Am häufigsten geht es um die Rückzahlung von Arbeitslosengeld II oder um Einkommen, die die Behörde mit der staatlichen Regelleistung verrechnet. Wie, bleibt dem Bürger ein Rätsel. Er erfährt nur das Ergebnis.
Der 53-jährige Frank Steger, Geschäftsführer des Berliner Arbeitslosenzentrums (Balz) evangelischer Kirchenkreise, sagt, seine Klienten bekämen mitunter "telefonbuchdicke Bescheide", die sie nicht verstünden. Weshalb einige Jobcenter neuerdings "Bescheiderklärer" einsetzten. Nachfragen gestalteten sich schwierig, auch für die Mitarbeiter des Balz. Die Leistungsabteilung rücke keine Telefonnummer heraus. Steger redet von unübersichtlichen Strukturen, von wechselnden Zuständigkeiten und überlasteten Mitarbeitern. Er sagt: "Es ist ein Gefühl, als betrete man ein kafkaeskes Schloss."
Das Balz berät jedes Jahr 3000 Hartz-IV-Empfänger. Mit seinem weißen Bus klappert es die Jobcenter in der Stadt ab. Frank Steger hilft den Betroffenen, Widersprüche zu formulieren und wenn es sein muss, auch zu klagen. In vielen Fällen hätten sich beide Parteien den Gang zum Gericht sparen können, wenn sie vorher auf Augenhöhe miteinander geredet hätten. Vier von fünf Fällen vor dem Sozialgericht enden ohne Urteil. "Der Richter wird zum Schlichter", sagt Marcus Howe. Man kann auch sagen: Er muss es ausbaden, wenn Hartz-IV-Empfänger und Sachbearbeiter in den Jobcentern aneinander vorbeireden.
Akten, überall Akten. In der Posteingangsstelle stapeln sich die eingegangenen Sendungen jeden Morgen so hoch, dass sie René Hildebrandt, 42, und Marco Pech bei der Arbeit die Sicht auf ihr Gegenüber versperren. Um 8.30 Uhr kommt ein Kleinlaster der Post und bringt Nachschub. Die beiden Kollegen müssen die Sendungen sortieren. Der 31-jährige Marco Pech, schulterlange Haare, silberner Ring im Ohr, will sich nicht beklagen. Hartz IV hat ihm Glück gebracht. Vor sechs Monaten fing er als vierter Mann in der Poststelle an. "Ein krisensicherer Job", sagt der gelernte Maler. Er lächelt verlegen. "Beinahe wäre ich selber in die Arbeitslosigkeit gerutscht."
Die Behörde stößt an ihre Grenze. Um Platz zu schaffen, wurde ein Teil des Archivs nach Großbeeren verfrachtet. Die Gerichtskantine wich neuen Büros. Seit 2005 hat sich die Zahl der Richter nahezu verdoppelt, inzwischen sind es 115. Die Krise, sie entpuppte sich als Jobwunder für frischgebackene Juristen mit Prädikatsexamen. Inzwischen befassen sich 66 von ihnen ausschließlich mit Hartz IV. Berlin gilt als Hartz-IV-Metropole. Jeder Fünfte unter 65 Jahren bezieht Leistungen aus dem Hartz-IV-System. Zurzeit sind es rund 580 000 Kinder und Erwachsene. Jeder zwölfte der bundesweit rund 6,9 Millionen Hartz-IV-Bezieher lebt in der Hauptstadt.
Zehn Monate dauert ein Verfahren im Schnitt. Damit stehe das Sozialgericht bundesweit noch gut da, resümiert Howe. Fragt sich bloß, wie lange noch. Ein Ende der Klagewelle ist nicht in Sicht. Gerade hat die Bundesregierung ihr Sparpaket beschlossen. Auf der Streichliste stehen diesmal das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger und die Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose. Es gab einen kurzen Aufschrei der Empörung, nicht nur in der Bevölkerung, auch bei der Opposition und den Gewerkschaften. Doch bevor einer die grundsätzliche Frage aufwerfen konnte, wie der Sozialstaat wieder aus der Sackgasse herausfinden soll, in die ihn die Arbeitsmarktreform geführt hat, war er wieder verhallt.
Im Sozialgericht kann man sein Echo noch leise hören. "Neue Einschnitte bei Hartz IV werden weitere Verfahren nach sich ziehen", prophezeit Howe. Dabei muss schon jetzt einiges liegenbleiben. Rund 38 000 Verfahren sind noch offen. "Um die alle abzuarbeiten, müssten wir das Haus für ein Jahr schließen", sagt der Sprecher.
"Nummer vier, bitte". Die resolute Stimme einer Frau dringt aus der Rechtsantragsstelle im Erdgeschoss. Dort, wo die Wartemarken noch nicht aus dem Automaten kommen. Man nimmt sie sich einfach von einem Stapel herunter. Es sind Billetts aus rotem Plastik, jedes so groß wie ein Zehneuroschein. "Das spart Kosten", heißt es im Gericht. Mit der Nummer in der Hand landen Besucher vor dem Tresen von Renate Hawaz-Klein, 59, hellblonde Haare, mütterlich-strenger Blick hinter einer Brille, ein Bonbonglas für Kinder auf dem Schreibtisch, ein Alarmknopf für Notfälle darunter.
Sie sagt, 80 Prozent ihrer Klienten kommen wegen Stress mit dem Jobcenter. Die einen sind den Tränen nahe, andere auf Krawall gebürstet. Mal geht es um 200 Euro für eine Klassenfahrt, die ein Jobcenter nicht bewilligt. Mal um den Zusatzbeitrag von acht Euro für die gesetzlichen Krankenkassen, den die Jobcenter nicht übernehmen. Auf dem Schreibtisch der Justizangestellten liegt ein Prospekt mit Gartenmöbeln. Sie sagt, sie könne sich nicht vorstellen, wie sie von 359 Euro im Monat leben sollte. Sie könne aber verstehen, dass wegen acht Euro Tränen fließen. "Für jemanden, der von Hartz IV lebt, ist das viel Geld."
Ihre Klienten können sich keinen Anwalt leisten. Es ist ihre Aufgabe, ihnen dabei zu helfen, ihre Klage zu formulieren. Sie sagt: "Ein bisschen bin ich auch Seelsorgerin." Für Notfälle hat sie sich Visitenkarten von Notunterkünften oder Suppenküchen kopiert. Einen Mittzwanziger in zerrissenen Jeans, dem das Jobcenter die Arbeitslosenhilfe II gekürzt hat, weil er keine Anstalten gemacht hat, sich um einen Job zu bewerben, hat sie gerade zu den Franziskanern gelotst. "Da bekommen Sie eine warme Mahlzeit und auch was Ordentliches anzuziehen."
Hawaz-Klein ist nicht die Einzige, die versucht, schnell und unbürokratisch zu helfen. Sie kennt viele Geschichten von der Solidarität. Der Mutter etwa, der das Jobcenter nicht das Geld für die Klassenfahrt ihres 13-jährigen Sohnes bewilligt hat, hat die Klassenlehrerin das Geld vorgeschossen. Das ist die eine Seite von Hartz IV.
Die andere Seite kennt kaum jemand so gut wie Lutz Ottenberg. Der Justizhauptwachmeister hat sich vor dem Metalldetektor hinterm Eingang aufgebaut. Ein vierschrötiger Typ mit Bürstenhaarschnitt. "J-U-S-T-I-Z" steht in großen Buchstaben auf seinem Hemdkragen. "Früher war dieses Haus ein offenes Haus. Jetzt müssen die Leute durch eine Sicherheitsschleuse wie im Flughafen", sagt Ottenberg. Schuld daran sind nicht nur die Arbeitsmarktreformen.
Im September 2004 stürmte ein Rentner die Behörde mit einer Panzermine. Das Sozialgericht hatte entschieden, dass seine Krankenkasse nicht die Kosten für eine Operation übernehmen musste. Dagegen rannte der Mann an. Er drohte, die Behörde in die Luft zu sprengen – mit 7,7 Kilogramm TNT. Seither hat Ottenberg Besuchern des Sozialgerichtes ein ganzes Arsenal an Totschlägern, Schlagringen und Schreckschusspistolen abgeknöpft. Er sagt, er frage sie nicht mehr, wozu sie vor Gericht ein Springmesser benötigten. "Die erzählen mir dann: Ich muss später noch in die Pilze."
Lutz Ottenberg sagt, die Klientel sei spürbar aggressiver geworden. Als "Nazischwein" sei er schon beschimpft worden, Dienstaufsichtsbeschwerden habe er sich auch schon eingehandelt. Man kann sagen, Ottenberg muss als Prellbock für ein Gesetz herhalten, dessen Anwendung in diesem Gebäude täglich neu überprüft wird – mit Ergebnissen, die den verantwortlichen Urhebern in der Politik ein Armutszeugnis ausstellen: "Jedes zweite Verfahren endet mit einem Teilerfolg für den Kläger", bilanziert Marcus Howe.
Es ist eine verheerende Bilanz, auch für die Bundesagentur für Arbeit (BA). In der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg heißt es in dürren Worten, die hohe Erfolgsquote der Kläger gehe auf das Gesetz zurück. Das sei eben komplex und dynamisch. Eigene Fehler der Behörde? Fehlanzeige. "In einer Vielzahl von Klageverfahren werden vom Kläger Unterlagen nachgereicht, durch die sich die ursprünglich fehlerfreie Entscheidung später als falsch erweisen kann", heißt es in einer schriftlichen Antwort auf eine Presseanfrage.
Der Leistungsempfänger als Kläger, er hat sich emanzipiert. Frank Steger vom Berliner Arbeitslosenzentrum sagt, viele fühlten sich der Behörde ausgeliefert.
"Ein Sieg vor Gericht gibt ihnen das Gefühl zurück, etwas bewirken zu können." Im Fall der Eheleute S. stimmt das Jobcenter nach einer halben Stunde einem Vergleich zu: Es übernimmt elf Zwölftel der Heizkosten. Frau S. fährt sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Augen. Ihr Mann verlässt den Gerichtssaal hocherhobenen Hauptes. Er brummt: "Na bitte, geht doch."
© Rheinischer Merkur Nr. 30, 29.07.2010
19.11.2011 - Helga Labenski – Berliner Morgenpost
In Berlin steigen die Mieten. Auch am Stadtrand ist es nicht mehr leicht, eine günstige Wohnung zu finden. Nun weigern sich Jobcenter, die gestiegenen Kosten für sozial Schwache zu übernehmen. Nun droht Tausenden Hartz-IV-Empfängern ein Umzug.
Die Mieten in Berlin steigen, günstiger Wohnraum ist knapp. Für beinahe 600.000 Menschen in der Stadt, die Arbeitslosengeld II erhalten, und etwa 30.000 Empfänger einer Grundrente werden die hohen Wohnkosten zunehmend zur Belastung. Die Jobcenter übernehmen Kosten der Unterkunft nur bis zu einem vom Land festgesetzten Höchstsatz. Immer mehr Bezieher von Leistungen nach Hartz IV und Grundsicherung müssen einen Teil der Wohnkosten selbst bezahlen oder sogar umziehen, weil ihre Miete über der vom Amt festgesetzten Obergrenze liegt.
Nach Angaben der Senatsverwaltung für Soziales wurden im vergangenen Jahr 20.000 Hartz-IV-Haushalte wegen zu hoher Mietkosten von den Jobcentern aufgefordert, ihre Unterkunftskosten zu senken. In den ersten acht Monaten 2011 waren es bereits mehr als 18.000.
Auch Eva Fröba (43) lebt in einer Wohnung, die dem Jobcenter Zehlendorf nach zwei Mieterhöhungen zu teuer geworden ist. Seit neun Jahren wohnt sie mit ihrem 18-jährigen Sohn in einem Altbau nahe der Sundgauer Brücke. 444 Euro warm dürfte die 63 Quadratmeter große Wohnung nach den Vorgaben für die „Bedarfsgemeinschaft“ aus zwei Personen kosten. Weil die Miete im September auf 529 Euro gestiegen ist, hat das Jobcenter Eva Fröba aufgefordert, bis zum 31. März 2012 ihre Unterkunftskosten auf den zulässigen Satz zu senken. Die 82 Euro Differenz kann Eva Fröba aus ihrem Arbeitslosengeld II nicht aufbringen. Auch für einen Umzug sieht sie keine Möglichkeit: „Sie finden in Berlin für 444 Euro warm keine Zwei-Zimmer-Wohnung, jedenfalls keine vernünftige“, ist sie sich sicher. „Man hat mir im Jobcenter ins Gesicht geschleudert, ich solle nach Marzahn ziehen“, empört sich die gelernte Fachverkäuferin für Uhren und Schmuck, die seit eineinhalb Jahren ohne Arbeit ist.
Doch selbst wenn sich Eva Fröba zum Wegzug aus ihrem Kiez durchringen könnte, sind günstige Unterkünfte auch am Berliner Stadtrand inzwischen nicht mehr leicht zu finden. Preiswerten Wohnraum nach Vorgaben der Ausführungsverordnung (AV) Wohnen gäbe es eigentlich nur noch in Spandau, Reinickendorf, Marzahn-Hellerdorf und Teilen von Lichtenberg, sagt Reiner Wild vom Berliner Mieterverein. Dort schlagen Bezirkspolitiker bereits Alarm, weil arme Zuzügler ihre Sozialetats belasten. „Zu uns kommen sehr verzweifelte Menschen, die eine Wohnung suchen. Aber sie finden keine, die den Kriterien entspricht“, sagt Wild. Die Behörden beanstanden zwar bei einer stetig steigenden Zahl von Leistungsempfängern zu hohe Mietkosten. Doch die Zahl der Zwangsumzüge in Berlin stagniert, auch wegen fehlender Alternativen. 1192 Hartz-IV-Haushalte mussten im vergangen Jahr ihre Möbelkisten packen, bis August 2011 wurden 837 Bedarfsgemeinschaften zum Umzug aufgefordert.
Mieterverein, das Arbeitslosenzentrum der evangelischen Kirchenkreise und die Landesarmutskonferenz haben jetzt noch einmal an die künftigen Koalitionäre von SPD und CDU appelliert, die Übernahme von Wohnkosten für sozial Bedürftige in Berlin schnell zu überarbeiten. „Die Richtwerte für angemessene Wohnkosten nach den Ausführungsvorschriften des Landes Berlin bilden schon lange nicht mehr die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt ab“, heißt es in der Erklärung. Mit anderen Sozialverbänden fordern die drei Institutionen in ihrem Appell an Rot-Schwarz, die erstattungsfähigen Mietkosten für Bedürftige der Mietentwicklung anzupassen.
Nach dem Berliner Mietspiegel sind die Wohnkosten in der Stadt allein in den vergangenen beiden Jahren um acht Prozent gestiegen. Mehr als 1,4 Milliarden Euro zahlen Land und Bund an Wohnkosten pro Jahr. 25 Millionen Euro Mehrkosten würde die Anpassung an den Mietspiegel verursachen. Der Bund hatte im vergangenen Jahr vom Land aber gut 13 Millionen Schadenersatz erstritten, weil in Berlin überhöhte Mietkosten ein Jahr lang übernommen wurden. Die Bundesregelung sieht vor, dass Hartz-IV-Empfänger nur ein halbes Jahr Kosten erstattet bekommen, die über den Richtwerten des Landes liegen.
Die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus hält einen Ausgleich zwischen Sparzwängen und sozialen Aspekten für erforderlich. „Natürlich wollen wir kein Umzugskarussell. Das tut der Stadt nicht gut“, sagt CDU-Haushaltsexperte Matthias Brauner. Es sei aber zu prüfen, ob die Übernahme von Wohnkosten abhängig vom Mietniveau in den einzelnen Stadtteilen differenziert werde könne. Auch über unterschiedliche Sätze für Kaltmiete und Nebenkosten müsse man nachdenken, sagt Brauner: „Die Dynamik bei den Mieten liegt vor allem bei den Heizkosten.“
Handeln muss die künftige Landesregierung aus SPD und CDU in jedem Fall: Das Landessozialgericht hat die AV Wohnen als unzureichend kritisiert. Auch das Bundessozialgericht hatte die Berliner Regelung als nicht transparent verworfen.
Quelle: http://www.morgenpost.de/berlin/article1831174/Hartz-IV-Empfaenger-koennen-Mieten-nicht-zahlen.html
05.09.2012 - Evangelischer Pressedienst
Die Berliner Diakoniedirektorin Susanne Kahl-Passoth hat den Senat aufgefordert, Arbeitslosen höhere Mieten zuzugestehen. Die seit Mai geltende Wohnaufwendungenverordnung habe das Problem keineswegs entschärft, sagte Kahl-Passoth am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung einer Zwischenbilanz der diesjährigen Jobcenter-Tour von Wohlfahrtsverbänden, evangelischer Kirche und DGB. Um den drastischen Mietsteigerungen Rechnung zu tragen, müssten die von den Jobcentern zu übernehmenden Mietsätze nochmals um knapp zehn Prozent erhöht werden.
Nach Angaben der Diakonie akzeptieren die Berliner Sozialbehörden aufgrund dieser Verordnung bereits um vier bis sieben Prozent höhere Mietsätze. Angesichts einer Kostensteigerung auf dem Wohnungsmarkt seit 2005 um 20 Prozent sowie sogar um 50 Prozent bei den Mietnebenkosten sei diese Erhöhung aber absolut unzureichend.
Laut Senatsangaben lagen im vergangenen Jahr bei knapp einem Drittel der rund 320.000 Bedarfsgemeinschaften die Mieten über den Höchstbeträgen, die die Jobcenter übernehmen. Zwei Drittel dieser Haushalte seien aufgefordert worden, die Mietkosten zu senken. Bei rund 27.000 führte dies dazu, dass die Behörden keine härtebedingte Ausnahme akzeptierten und nicht den tatsächlichen Mietpreis übernahmen. Die Differenz mussten die Betroffenen daraufhin aus ihrer regulären Hartz-IV-Unterstützung bestreiten. In Berlin leben derzeit knapp 581.000 Menschen ganz oder teilweise von Hartz-IV-Leistungen. Knapp ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche.
«Zu den mittlerweile geforderten Mietpreisen finden viele Hartz-IV-Bezieher in ganz Berlin keine Wohnung mehr», sagte der Leiter des Berliner Arbeitslosenzentrums der evangelischen Kirchenkreise, Frank Steger. «Das ist derzeit eines des größten sozialpolitischen Probleme Berlins», fügte der Koordinator der Jobcenter-Tour hinzu.
Bis Ende September beraten dabei Fachleute einmal in der Woche Arbeitslose vor einem der Berliner Jobcenter. In manchen Bezirken beziehe sich mittlerweile sogar jede zweite Beratungsanfrage auf Wohnungsnöte, hieß es weiter.
Die diesjährige Jobcenter-Tour startete Anfang Juli. Aufgrund der starken Nachfrage in den Vorjahren wurde die Dauer der Aktion auf zwölf Wochen verdoppelt. Schon nach der Halbzeit wurde nach Stegers Angaben eine Rekordzahl von 1.151 Beratungen registriert. Vor zwei Jahren waren es insgesamt 770. Die Jobcenter-Tour wird in diesem Jahr erstmals auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) unterstützt.
05.09.2012 - Nissrine Messaoudi - Neues Deutschland
Bezahlbarer Wohnraum wird in der Hauptstadt zunehmend knapper. Besonders betroffen sind Hartz-IV-Empfänger, wie Wohlfahrtsverbände wissen. Das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (DWBO) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sprachen gestern vor dem Jobcenter Tempelhof-Schöneberg von einer verschärften Situation. »Probleme mit der Unterkunft haben deutlich zugenommen«, sagte Frank Steger, Koordinator der Aktion »Irren ist amtlich - Beratung kann helfen«. Seit Anfang Juli steht der Beratungsbus vor wechselnden Jobcentern. Zum ersten Mal wird das Angebot auf zwölf Wochen ausgeweitet, da die Zahl der Ratsuchenden steigt. In den ersten sechs Wochen der Tour haben bereits rund 1200 Menschen das Hilfsangebot angenommen. Das sind im Schnitt 48 Beratungen am Tag. Vor zwei Jahren waren es insgesamt 770.
»Ich denke die Nachfrage hat zugenommen, weil sich die Situation in vielerlei Hinsicht verschlechtert hat«, so Steger. Zugenommen haben vor allem Fragen zu Mietkosten. Jede dritte Frage bezieht sich inzwischen auf die Wohnsituation. »In Prenzlauer Berg und in Friedrichshain-Kreuzberg war es sogar jede zweite Frage«, so Steger. Die vom Senat bewilligte leichte Erhöhung der Wohnkostenübernahme für Hartz-IV-Empfänger sei viel zu niedrig, kritisierte Susanne Kahl-Passoth, Direktorin des Diakonischen Werks. »Es ist nicht gelungen die Mietsituation für Bedürftige zu entschärfen. Angesichts einer Kostensteigerung auf dem Wohnungsmarkt seit 2005 um 20 Prozent sowie sogar um 50 Prozent bei den Mietnebenkosten entspreche diese Erhöhung nicht der Realität auf dem Wohnungsmarkt. »Wir fordern den Senat daher auf, die Mietobergrenze nach oben zu korrigieren«, so Kahl-Passoth. Eine Erhöhung um mindestens zehn Prozent sei nötig, um den Mietsteigerungen der letzten Jahre gerecht zu werden.
In Berlin leben derzeit knapp 581 000 Menschen ganz oder teilweise von Hartz-IV-Leistungen. Knapp ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Bei rund 100 000 Bedarfsgemeinschaften lagen nach Angaben des Senats 2011 die Mieten über den Richtwerten. 65 000 dieser Haushalte wurden von den Jobcentern aufgefordert, die Mietkosten zu senken. In mehr als 40 Prozent der Fälle zahlte das Jobcenter danach nur noch die Miete in Höhe der Richtwerte.
Viele Betroffene müssen die Differenz selber tragen und das von dem wenigen Geld, das ihnen zum Leben bleibt. »Diese Menschen müssen sich die Differenz vom Munde absparen. Sie leben damit weit unter dem Existenzminimum«, monierte Frank Steger. Die andere Möglichkeit, »wegziehen«, sei in den meisten Fällen keine Alternative, da mittlerweile billiger Wohnraum in fast jedem Bezirk rar geworden sei. »Der immer wieder kehrende Rat, die Betroffenen sollen doch nach Marzahn-Hellersdorf ziehen, ist völliger Quatsch«, weiß Markus Wahle vom Beratungsbus. Die Wohnungen in Marzahn seien auf Kleinfamilien ausgerichtet, während 50 Prozent der Hartz-IV-Empfänger alleinstehend sind. Genauso schlecht sehe es für Großfamilien aus. Denn ein Großteil der Vielzimmerwohnungen befinde sich in Charlottenburg-Wilmersdorf, in Steglitz oder Zehlendorf. Bezirke, die die Mietobergrenzen des Senats bei Weitem überschreiten.
Der Beratungsbus bietet noch bis Ende September seine Hilfe an. Morgen und am Freitag wird er vor dem Jobcenter im Treptow-Köpenick stehen.
Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/237636.kaum-wohnungen-fuer-beduerftige.html
8.3.2012 – Berliner Morgenpost
Das unterstützen auch die Grünen-Sozialstadträte aus Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Mitte. "Wir beobachten mit Sorge, dass immer mehr Menschen, die in Berlin Leistungen der Jobcenter erhalten, ihre Miete nicht mehr bezahlen können", sagte Mittes Stadtrat Stephan von Dassel, der deshalb zusammen mit seinen Kollegen Sibyll Klotz (Tempelhof-Schöneberg) und Bernd Szczepanski (Neukölln) am Mittwoch zu einer Pressekonferenz ins Rathaus Wedding eingeladen hatte.
Fast jede dritte Bedarfsgemeinschaft überschreite die sogenannte Ausführungsvorschrift Wohnen, in der die Kostensätze geregelt sind. Während die Bestandsmieten allerdings seit 2005 um 17 Prozent gestiegen sind, in den Altbauten sogar um 20 Prozent, seien die Richtwerte für die Wohnkostenübernahme mit einer Ausnahme im Jahr 2009 - damals gab es fünf Prozent mehr für die Ein-Personen-Wohnungen - unverändert geblieben.
Fast 100.000 der insgesamt 320.000 Berliner Bedarfsgemeinschaften, die ihr Geld über das Jobcenter bekommen, zahlen eine Miete, die oberhalb der Richtwerte liegt. Die meisten von ihnen wohnen in Mitte, Neukölln und Tempelhof-Schöneberg. Bei rund einem Drittel der Fälle konnte ein Umzug mit Härtefallanwendungen oder wegen Unwirtschaftlichkeit verhindert werden. "Der Druck und die Angst sind groß, dass die Wohnung verlorengeht, viele erleben die Aufforderung, sich eine günstigere Wohnung zu suchen, wie einen Schock", berichtete Frank Steger, Vorstand des Arbeitslosenzentrums evangelischer Kirchenkreise. Viele zwackten sich den Differenzbetrag von ihrer Regelleistung (374 Euro) ab, "wodurch sie in eine brutale Armutszone kommen".
Wie berichtet, haben die Jobcenter den Druck auf Hartz-IV-Empfänger erhöht. 2011 forderten sie mehr als 65.000 Berliner auf, die Kosten für Unterkunft und Heizung zu senken. Das Problem allerdings: Aufgrund der Mietpreisentwicklung gibt es nach Auskunft des Mietervereins kaum noch Wohnungen, die sich Menschen mit niedrigem Einkommen leisten können. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) will bis zum Sommer eine Rechtsverordnung vorlegen, mit der die Wohnhilfen neu geregelt werden. Eine Verdrängung von Hartz-IV-Empfängern an den Stadtrand soll vermieden werden. bsm